Beschluss des BVerG zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021

Leitsätze des Gerichts

1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen
ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG
folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den
Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch
in Bezug auf künftige Generationen begründen.

2. Art. 20 a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von
Klimaneutralität.

a) Art. 20 a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im
Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu
bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei
fortschreitendem Klimawandel weiter zu.

b) Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge,
schließt die durch Art. 20 a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen
aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit
gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.

c) Als Klimaschutzgebot hat Art. 20 a GG eine internationale Dimension. Der nationalen
Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und
Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt.
Das Klimaschutzgebot verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen
Schutz des Klimas und verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz
hinzuwirken. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die
Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.

d) In Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags und seiner Konkretisierungsprärogative hat
der Gesetzgeber das Klimaschutzziel des Art. 20 a GG aktuell verfassungsrechtlich zulässig
dahingehend bestimmt, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2
C und möglichst auf 1,5 C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist.

e) Art. 20 a GG ist eine justiziable Rechtsnorm, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer
Belange auch mit Blick auf die künftigen Generationen binden soll.

3. Die Vereinbarkeit mit Art. 20 a GG ist Voraussetzung für die verfassungsrechtliche
Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in Grundrechte.

4. Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung
grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von
Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als
intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20 a GG
aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche
Schutzauftrag des Art. 20 a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen
Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu
hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener
Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten. Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den
Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erfordert dies, dass frühzeitig
transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert
werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und
diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln.

5. Der Gesetzgeber muss die erforderlichen Regelungen zur Größe der für bestimmte Zeiträume
insgesamt zugelassenen Emissionsmengen selbst treffen. Eine schlichte Parlamentsbeteiligung
durch Zustimmung des Bundestags zu Verordnungen der Bundesregierung kann ein
Gesetzgebungsverfahren bei der Regelung zulässiger Emissionsmengen nicht ersetzen, weil hier
gerade die besondere Öffentlichkeitsfunktion des Gesetzgebungsverfahrens Grund für die
Notwendigkeit gesetzlicher Regelung ist. Zwar kann eine gesetzliche Fixierung in Rechtsbereichen,
die ständig neuer Entwicklung und Erkenntnis unterworfen sind, dem Grundrechtsschutz auch
abträglich sein. Der dort tragende Gedanke dynamischen Grundrechtsschutzes (grundlegend
BVerfGE 49, 89 <137>) kann dem Gesetzeserfordernis hier aber nicht entgegengehalten werden.
Die Herausforderung liegt nicht darin, zum Schutz der Grundrechte regulatorisch mit Entwicklung
und Erkenntnis Schritt zu halten, sondern es geht vielmehr darum, weitere Entwicklungen zum
Schutz der Grundrechte regulatorisch überhaupt erst zu ermöglichen.

BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18; 1 BvR 78/20; 1 BvR 96/20; 1 BvR 288/20)

 

– Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 31/2021 vom 29. April 2021
BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021- 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270, zuletzt abgerufen am 12.07.2021

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